Auf den ersten Blick mag es merkwürdig erscheinen, die beiden Begriffe Kirchenmusik und Nationalsozialismus miteinander in Beziehung zu setzen, denn das eine ist eine wichtige Lebensäußerung der Kirche, das andere eine politische Ideologie, die 1933 die Staatsgewalt in die Hand nahm. Beide strukturell nicht vergleichbaren Größen wirkten aber in der gleichen Öffentlichkeit, in der deutschen Gesellschaft, und sind in mancher Hinsicht auf demselben Boden gewachsen. Da gab es die Jugendbewegung zu Beginn des Jahrhunderts, in der die alte bürgerliche Welt überwunden werden sollte, da herrschte nach der schmachvollen Niederlage des 1. Weltkrieges der Wunsch nach Wiederherstellung der deutschen Ehre. Da war der Antisemitismus, der in Kirche und Volk viele Anhänger oder mindestens wohlwollende Sympathisanten fand. Er spiegelte den gedemütigten Menschen vor, einer wertvolleren Rasse anzugehören und damit allen anderen überlegen zu sein. Die weitverbreitete Sehnsucht nach einem starken Führer, der aller Not ein Ende machen würde, trug bisweilen die Züge einer messianischen Hoffnung. Ein solcher Führer würde das geschwächte nationale Selbstwertgefühl wieder aufrichten und die deutsche Ehre wieder herstellen. Er würde Stärke und Kraft walten lassen anstatt Toleranz und demokratischer Auseinandersetzung. Einheit sollte die Vielfalt ersetzen und Gemeinschaft den Individualismus. Millionen Deutsche wünschten sich die Geborgenheit in einem solchen gemeinsamen Ich-Ideal, und in Hitler glaubten sie, es gefunden zu haben.
In der Kirche waren angesichts des politischen Programms der NSDAP Hoffnungen aufgekommen, die nationalsozialistische Regierung werde – wie angekündigt – auf dem „Standpunkt des positiven Christentums“ stehen, und Hitler selbst hatte vor dem Reichstag verkündet, er sehe „in den beiden christlichen Konfessionen die wichtigsten Faktoren zur Erhaltung unseres Volkstums“. Das waren Töne, die in der evangelischen Kirche auf breite Zustimmung stießen. So ließ die neue Zeit große Erwartungen entstehen. War der Führer nicht sogar der Retter des christlichen Abendlandes und des Christentums überhaupt? Der kirchenfeindliche Marxismus schien jetzt keine Gefahr mehr zu sein, und die deutschnationale Grundstimmung im Protestantismus sah sich bestätigt und bekräftigt, denn Gefahren sahen die Protestanten seit langem nur von links kommen, niemals von rechts. So dichtete der Pfarrer Otto Riethmüller im Jahr 1933 voll zukunftsfroher Begeisterung:
Über den deutschen Strom
dröhnen die Glocken vom Dom:
Finsternis weicht, und der Tag kommt herbei,
Deutschland, steh auf, denn der Herr macht dich frei.“
[und die dritte Strophe endet mit den Worten:]
„Kämpfe du mit für das künftige Land,
Arbeit und Freiheit für jeglichen Stand.
Kämpferland, Hitlerland, schirm dich Gottes Hand.“ 2
Riethmüller hatte damals als Direktor des Berliner Burckhardthauses einen verantwortungsvollen Posten in der evangelischen Jugendarbeit inne und war zwei Jahre nach Veröffentlichung dieses Liedes zum Vorsitzenden der Reichsjugendkammer der Bekennenden Kirche gewählt worden. Das war nicht unbedingt ein Widerspruch, denn Hitlerbegeisterung und Bekennende Kirche schlossen sich in den ersten Jahren des Dritten Reiches keineswegs aus. Solche Begeisterung für das neue Reich Hitlers findet sich in vielen Liedern kirchlicher Kreise und war offensichtlich auch in der evangelischen Jugend weit verbreitet. Die Hoffnungen in der Kirche gingen aber noch darüber hinaus. Viele erwarteten, dass das wiedererstarkte deutsche Reich insgesamt ein christliches Reich werden würde, denn Deutschland schien vor dem Hintergrund der Geschichte für alle Zeit zum christlichen Glauben berufen zu sein. Generalsuperintendent Dr. Otto Dibelius hatte am 21. März 1933, dem Tag von Potsdam, in der dortigen Garnisonkirche seine Predigt mit den Worten beendet: „Das ist heute unser Gebet: dass Gottes Gnadenhand über dem Bau des Deutschen Reiches die Kuppel wölbe, die einem deutschen, einem geheiligten, einem freien Volk den Blick für immer nach oben zieht. Deutschland wieder und für immer: ein Reich, ein Volk, ein Gott!“ (87). Aber schon elf Tage später, am 1. April 1933, wurden im ganzen deutschen Reich in aller Öffentlichkeit die jüdischen Geschäfte boykottiert und ihre Inhaber misshandelt. Eine weitere Woche später folgten die berüchtigten „Arierparagraphen“, in denen die Juden aus den Beamtenstellungen und aus dem Hochschulbereich vertrieben wurden.
Das alles hat aber die Hoffnungen auf die – wie es hieß – „neuen, zukunftsschaffenden Kräfte“ des Nationalsozialismus in Kirche und Kirchenmusik nicht getrübt. Der Berliner Oberkonsistorialrat Dr. Oskar Söhngen, der sich im Laufe der Zeit zum Chefideologen der evangelischen Kirchenmusik entwickelt hatte, beharrte noch 1937 darauf, dass die Wiedergeburt der Kirchenmusik und der Aufbruch der Nation unter Hitler eng miteinander verwandt sind [ich zitiere]:
Über solchem gemeinschaftlichen Singen festigt sich die Gemeinschaft der Gemeinde und wird die Gemeinde ihrer Berufung froh bewusst. Das ist ein Vorgang, der genau jenem anderen entspricht, wie wir ihn heute im Aufbruch der Nation erleben und in dem seltsam-verwandte zukunftsschaffende Kräfte am Werke sind. Die ‚singende Mannschaft’ ist die neue musikalische Erscheinungs- und Bildungsform eines sich auf die heroischen, männlichen Grundlagen seines Daseins besinnenden Volkes, das im Nationalsozialismus einen neuen Inhalt seines Lebensgefühls empfangen hat.“ (88)
Doch schon im Jahr 1933 gab es auch Misstöne, und die Freude über das neue Reich wurde getrübt. Es war die nationalsozialistische Glaubensbewegung Deutsche Christen, die im Jahr 1933 versuchte, bei der Gestaltung und bei der Organisation der deutschen evangelischen Kirchenmusik die Oberhand zu gewinnen. Dabei ging es überhaupt nicht darum, ob man positiv oder negativ zum Nazi-Staat und seiner Ideologie steht, sondern darum, wie Kirchenmusik in Zukunft stilistisch auszusehen habe. Die Deutschen Christen mit ihrem Reichsverband evangelischer Kirchenmusiker Deutschlands wandten sich offen gegen die Orgelbewegung und die kirchenmusikalische Erneuerung, die sich unterdessen weithin durchgesetzt hatten. Die Kirchenmusiker in unserem Land hatten die alte Musik und ihr Instrumentarium, vor allem aber die barocken Orgeln wiederentdeckt. Sie kehrten zu den reformatorischen Liedern und zu den liturgischen Formen vor der Aufklärung zurück. Kirchenmusikalische Erneuerung, das hieß für sie auch Abschied von schwülstigen Besetzungen und Rückkehr zu einfachen linearen und polyphonen Strukturen in der Komposition. Gegen all dies wendete sich der deutsch-christliche Reichsverband evangelischer Kirchenmusiker. Er behauptete, die lineare und polyphone Kompositionsweise wäre harmonisch rücksichtslos und würde der Atonalität Tür und Tor öffnen. Die Klassik und die Romantik des 19. Jahrhunderts mit ihren großen und technisch hochgerüsteten Orgeln wurde dagegen zum Vorbild erhoben. Kirchenmusik sollte vor allem harmoniebetont sein und keine kontrapunktischen Künsteleien pflegen. Gegen dieses stilistische Programm wandten sich im Sommer 1933 fast alle führenden Kirchenmusiker mit dem Leipziger Thomaskantor Professor Dr. Karl Straube an der Spitze. Sie verfassten eine gemeinsame Erklärung. Darin wurde die von den deutsch-christlichen Kirchenmusikern vertretene „geistig-reaktionäre Kunst“ aus einer vergangenen Epoche abgelehnt, denn sie habe [Zitat:] „mit dem künstlerischen Wollen des jungen Deutschland nichts gemein“. Die Unterzeichner benutzten die NS-Sprache, weil sie nicht den Anschein einer Kritik am Nationalsozialismus erwecken wollten. Eine solche Kritik lag ihnen in der Sache fern, denn die Erklärung entsprach auch ihren eigenen Wertvorstellungen. Man hat beim Lesen fast den Eindruck, die Kirchenmusiker nähmen Hitler selbst als Zeugen gegen die Deutschen Christen in Anspruch. Hier war von Hitlers „nationaler Erneuerung“ die Rede, von den „zersetzenden Kräften des Liberalismus und des Individualismus“ und von der „volkhaften Grundlage aller Kirchenmusik“. So ging es im Jahr 1933 um einen Machtkampf zwischen der kirchenmusikalischen Erneuerungsbewegung, die ihre Kraft und Fantasie aus der alten Musik schöpfte und andererseits einer stilistischen Ausrichtung am 19. Jahrhundert, auf die sich die Deutschen Christen allzu voreilig festgelegt hatten. Im September 1933 wurde von der kirchen-musikalischen Erneuerungsbewegung der Reichsbund für evangelische Kirchenmusik gegründet, der sich letztlich gegen den deutsch-christlich orientierten Reichsverband evangelischer Kirchenmusiker durchsetzte. Der neue Reichsbund wurde schließlich vom nationalsozialistischen Staat ebenso wie von den Kirchen als alleinige Vertretung der Kirchenmusiker anerkannt. Bereitwillig und in vorauseilendem Gehorsam gliederte sich der Reichsbund in die Reichsmusikkammer ein und wurde so zu einem Bestandteil des nationalsozialistischen Kultursystems. Die Wortführer der Kirchenmusik suchten mit dieser freiwilligen Eingliederung den Schutz durch die staatliche Organe, denn sie wollten künftig sicher sein vor der deutsch-christlichen Konkurrenz. Damals stand für die Erneuerungsbewegung eine Menge auf dem Spiel, ich denke dabei vor allem an die Etablierung des neuen kirchenmusikalischen Berufsstandes, der erstmalig in der Geschichte die Chorleitung und das Orgelspiel in eine Hand legte. Die haupt- oder nebenberuflichen Kantoren und Kantorinnen sollten die kirchenmusikalische Erneuerung in die einzelnen Gemeinden und Kirchenbezirke hineintragen.
Die Entscheidung in dem Machtkampf um die stilistische Ausrichtung der Kirchenmusik fiel bereits im Jahr 1933. Die Kirchenpartei der Deutschen Christen mitsamt ihren musikalischen Wortführern wurde schon bald vom Nazi-Staat selbst weitgehend im Stich gelassen und fiel in die Bedeutungslosigkeit zurück. Die kirchenmusikalischen Erneuerer haben diesen Machtkampf gewonnen, denn ihre Gegner hatten schlicht auf das falsche Pferd gesetzt, indem sie sich gegen die Werte der Erneuerungsbewegung positionierten. Die Kulturpolitiker des NS-Regimes besiegelten diese Richtungsentscheidung zugunsten der kirchenmusikalischen Erneuerung, und im November 1933 wurde Karl Straube zum Leiter der Fachschaft Evangelische Kirchenmusiker in der nationalsozialistischen Reichsmusikkammer ernannt. Was nach 1945 zu einem heldenhaften Kampf der kirchenmusikalischen Erneuerer gegen den Nazi-Staat umgedeutet wurde, war in Wirklichkeit eine liturgische, ästhetische und musikpraktische Auseinandersetzung über die Frage, welche Art von Kirchenmusik dem neuen nationalsozialistischen Staat angemessen ist.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass führende Kirchenmusiker in den folgenden Jahren immer wieder betonten, wie eng die Verbindung auch zwischen den musikalischen Vorstellungen der Kirchenmusik und denen des NS-Staates ist. Oskar Söhngen erklärte 1937 [Zitat]:
„Es ist öfters bemerkt worden, dass in der Hitler-Jugend und in der zeitgenössischen Kirchenmusik weithin aus einer verwandten Gesinnung und stilistischen Haltung heraus musiziert wird. Komponisten wie Heinrich Spitta, Wolfgang Fortner und Karl Marx sind sogar beiden ‚Lagern’ gemeinsam. Von daher kommt man in der Hitler-Jugend zu einer Schau der allgemeinen Entwicklung, die [...] sich weitgehend mit der unsrigen deckt.“3
Ein Jahr später geht der Dortmunder Kantor Dr. Otto Brodde noch einen Schritt weiter und stellt fest, dass die Musik der Hitler-Jugend [Zitat]:
..ohne das Suchen der Kirchenmusik gar nicht möglich gewesen wäre.
Die junge Kirchenmusik habe angesichts dessen geradezu eine „Führerrolle“ angenommen.4 Allmählich setzt sich bei den leitenden Persönlichkeiten der Erneuerung die Meinung durch, dass die Kirchenmusik nach ihrer „Wiedergeburt“ nicht nur aus der musikalischen Aschenputtelrolle herausgetreten, sondern sogar zur stilistischen Avantgarde aufgestiegen sei. Später urteilt Oskar Söhngen, dass die Kirchenmusik in jenen Jahren „die starke gesicherte Mitte der deutschen Musik“ gewesen sei5 und spricht von der „führenden Stellung der Kirchenmusik innerhalb der deutschen Kunst“.6 Wir wissen heute, welche Komponisten damals als „entartet“ haben eliminiert werden müssen, damit die Kompositionen von Kurt Thomas, Ernst Pepping, Hugo Distler, Kurt Fiebig, Erwin Zillinger und anderen zur musikalischen Avantgarde der gesamten deutschen Musik werden konnten.
Aus der Avantgarde-Theorie ergab sich für Söhngen eine konkrete politische Konsequenz. Er wollte die neue evangelische Kirchenmusik in aller Form der deutschen Öffentlichkeit vorführen. Vor allem aber wollte er der Nazi-Partei und der Reichsregierung demonstrieren, was sich in der Kirchenmusik alles getan hat. Deshalb organisierte er im Oktober 1937 in Berlin das Fest der deutschen Kirchenmusik. Dieses Fest sollte zeigen, welche schöpferischen Kräfte in der Kirchenmusik seit dem Beginn des Dritten Reiches freigesetzt worden sind. Oskar Söhngen legte Wert auf die Feststellung, dass fast alle dort zur Aufführung gelangenden Werke nach dem 30. Januar 1933, also nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, entstanden sind. Die Naziregierung förderte das Fest dementsprechend mit stattlichen Zuschüssen aus dem Reichskirchenministerium und dem Reichserziehungsministerium. In seiner Eröffnungsansprache am 7. Okt. 1937 in der Berliner Alten Garnisonkirche erklärte Söhngen [Zitat]:
Die Kirchenmusik ist der frohen Überzeugung, dass sie dem neuen Deutschland Adolf Hitlers einen wichtigen Dienst zu leisten schuldig und berufen ist. (90)
Diese Formulierung Söhngens war kein Zufall, denn sie entsprach seiner Vorstellung vom „ewigen Deutschland“, dem nach seiner politischen Wiedergeburt unter Hitler zu seiner Vollendung noch der christliche Glaube geschenkt werden sollte. Das neue Deutschland Adolf Hitlers und die Früchte der wiedergeborenen Kirchenmusik gehörten für ihn zusammen und waren füreinander bestimmt. Söhngen und seine Leute wollten freilich auch, dass Hitler persönlich von diesem Fest Kenntnis nimmt, deshalb schickten sie ihm ein Huldigungstelegramm folgenden Inhalts:
Berlin, den 12. Oktober 1937: Die in Berlin zum Fest der deutschen Kirchenmusik versammelten Kirchenmusiker aus allen Teilen Deutschlands grüßen ehrfürchtig den Führer und Schöpfer des Dritten Reiches und geloben treue Gefolgschaft beim Neuaufbau der deutschen Kultur. (89)
Damit keiner glaubt, das wäre nur eine unvermeidliche Pflichtübung gewesen, versichert Otto Brodde den Lesern gleich mehrere Zeitschriften, was die Grüße zum Ausdruck bringen wollen, nämlich [Zitat]:
„dass die Kirchenmusikanten Deutsche sind und mit Stolz christliche Deutsche des Dritten Reiches sein wollen.“ (90)
Als das Ergebenheitstelegramm an Hitler und dessen kurze Antwort bei einem Empfang vor den Landesobmännern der Kirchenmusiker-, Kirchenchor- und Posaunenverbände verlesen worden war, stimmte die Versammlung in ein dreifaches „Sieg-Heil!“ auf Adolf Hitler ein.
Das Fest der deutschen Kirchenmusik empfand Oskar Söhngen als sein wichtigstes Lebenswerk. Gemeinsam mit dem Grunewalder Kantor Prof. Wolfgang Reimann und dem Dichter und Pfarrer Kurt Ihlenfeld hatte er es genauestens geplant. Und in der Tat: Auf dem Programm standen damals Werke, die noch heute ihren Platz in den kirchenmusikalischen Programmen haben: Hugo Distlers Weihnachtsgeschichte und dessen Motette Ich wollt, dass ich daheime wär, sein Cembalokonzert op.14 und die beiden Orgelpartiten Nun komm der Heiden Heiland und Wachet auf ruft uns die Stimme. Ernst Peppings 90. Psalm und seine Orgel-Partita Wer nur den lieben Gott lässt walten. Joh. Nep. Davids Choralmotette Nun bitten wir den hl. Geist und seine Orgelfantasie über L’homme armé oder Kurt Thomas’ Orgelvariationen Es ist ein Schnitter, heißt der Tod.
Die Kompositionen Distlers, Davids, Fortners und Peppings standen zweifellos im Zentrum des Programms. Unter den Textdichtern kamen vor allem Rudolf Alexander Schröder und Kurt Ihlenfeld zu Wort. Es fällt allerdings auf, dass bestimmte Namen, die in diesem Zusammenhang zu erwarten gewesen sind, im Programmbuch fehlen, z.B. der Komponist Günther Raphael oder der Kirchenliederdichter und Verfasser des berühmten Romans Der Vater, Jochen Klepper. Raphael war selbst jüdischer Abstammung und Klepper hatte eine Jüdin zur Frau und war nicht bereit, sich von ihr zu trennen. Deshalb kamen weder Raphael noch Klepper für das Fest der deutschen Kirchenmusik in Frage. Klepper schrieb darüber in seinem Tagebuch am 4. Okt. 1937:
In dieser Woche beginnt das Fest der deutschen (modernen) Kirchenmusik [...] Neue Musik zu neuen Texten; diese sind aber nur von R. A. Schröder, sonst hat man auf sehr Altes zurückgreifen müssen. Das ist doppelt deprimierend, nachdem ich gerade Ihlenfelds und R. A. Schröders Urteil über meine Texte kenne. Hier, hier vor allem sind die, zu denen ich gehöre; und von ihnen werde ich am verletzendsten ausgeschaltet.
Dann plötzlich besann man sich aber und bat Klepper wenige Tage zuvor, nun doch noch einen Vortrag zu halten, der dann hinter einen Vortrag Kurt Ihlenfelds eingeschoben werden sollte, natürlich ohne im offiziellen Programmbuch erwähnt zu werden. Aber für eine Vorbereitung war es schon zu spät.
Damit sind wir beim dunkelsten Kapitel opportunistischer Anpassung, dem Antisemitismus. Oskar Söhngen, der sich ständig programmatisch geäußert hat, war auch auf diesem Gebiet die führende Person. In seiner einflussreichen Stellung als hoher Kirchenbeamter der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union sorgte er persönlich dafür, dass getaufte evangelische Kirchenmusiker, die aus jüdischen Familien stammen, aus dem Dienst entfernt wurden und ihre Existenz verloren, wie Julio Goslar, der Kantor der Lutherkirche in Köln-Nippes oder der Königsberger Kirchenmusikdirektor Ernst Maschke oder der Kantor Evaristos Glassner von der Lutherkirche Berlin-Neukölln. Wie ambivalent die Dinge dabei werden konnten, sieht man an Söhngens Verhalten gegenüber Glassner: Erst sorgt Söhngen für dessen Amtsenthebung, weil er die Kirchenmusik vor der Nazipartei als judenfrei präsentieren möchte, dann aber zeigt er sich von der menschlichen Seite und gewährt ihm finanzielle Unterstützung während des Berufsverbotes.7 Die Bilanz der Entjudung der evangelischen Kirchenmusikerschaft in Deutschland zieht der Chefideologe selbst, wenn er schreibt:
„Im ganzen ist das Ergebnis hocherfreulich, beweist es doch eindeutig, wie judenrein sich die Kirchenmusik gehalten hat. Hätten sich die anderen Gebiete der Musikpflege auch nur annähernd in demselben Maße von jüdischen Einflüssen freigehalten, wäre es niemals zu einem solchen Niedergang unseres öffentlichen Musiklebens gekommen!“ (93)
Die Nationalsozialisten waren davon überzeugt, dass Musik und menschliche Rasse etwas miteinander zu tun haben. Wertvolle Musik kann nur in hochwertigen Rassen entstehen, und die arische Rasse – was immer das auch ist – sei nun einmal die biologische Krönung der Menschheit. Wenn Oskar Söhngen feststellt, das öffentliche deutsche Musikleben sei im Gegensatz zur Kirchenmusik „systematisch verjudet“, dann mussten im Zuge dieses Rassenwahns natürlich auch die Gesangbücher entjudet werden, damit hier niemand noch irgendeine Spur von jüdischem Geist finden kann. In Liedern und kirchenmusikalischen Texten (z.B. Bach-Kantaten) wurden die Worte Israel, Jakob, Abraham, Zion und sogar Halleluja durch andere Worte ersetzt. Die letzte Strophe von Joachim Neanders Lied Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren kennen wir aus unseren Gesangbüchern so:
Lobe den Herren; was in mir ist, lobe den Namen
Alles, was Odem hat, lobe mit Abrahams Samen.
Aus der Feder des Kieler Alttestamentlers Wilhelm Caspari stammt folgende entjudete Fassung:
Lobe den Herren; Gelobt sei sein Name, der schöne.
Alles, was Odem hat, lobe ihn, Väter und Söhne.
Und aus Philipp Nicolais Zion hört die Wächter singen wird: „Wer da hört die Wächter singen“.
Das unappetitliche Thema der „Entjudung“ der Kirchenmusik brauche ich nicht weiter auszuführen, weil es von Hans Prolingheuer sorgfältig dokumentiert ist.
So bleibt noch zu erwähnen, dass man auch die Orgel und ihre Musik mit nationalen Deutungen und Aufgaben versehen wollte. Die NS-Feiern sollten durch Orgelmusik weihevoller werden, wie überhaupt dieses Instrument ein herrliches Symbol für den NS-Staat sei. Der Freiburger Privatdozent Dr. Wilhelm Ehmann schreibt ein Buch, in dem für jeden politischen Festtag der Nazis eine Art Proprium vorgeschlagen wird, eine Auswahl von Chor- und Orgelmusik, die zum Tag der Machtübernahme, zum Tag der Mutter, zum Tag des Heldengedenkens oder zu Führers Geburtstag usw. passt. Bei der Reichsjugendführung gab es eine Orgel-Arbeitsgemeinschaft der Hitler-Jugend. Sie wurde von dem Danziger Musikwissenschaftler Prof. Dr. Gotthold Frotscher geleitet. Dieser Gruppe gehörten auch Dr. Herbert Haag/Heidelberg, Dr. Wilhelm Ehmann/Freiburg und Wolfgang Auler/Hirschberg (Schlesien) an. Der Orgeldozent am Heidelberger Evangelischen Kirchenmusikalischen Institut, Dr. Herbert Haag, war dabei eine Art Vordenker und propagierte die Orgel als Sinnbild der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft und des totalen, nur von einer einzigen Person gesteuerten Führerstaates. Einer drückt die Tasten, und die Pfeifen tönen auf seinen Befehl in bedingungslosem Gehorsam.
Bei alledem darf man nicht aus dem Blick verlieren, dass die selbsternannten Wortführer der evangelischen Kirchenmusik jahrelang geglaubt hatten, ihre Treue zum Führer, ihre Ablehnung alles Jüdischen und ihre Anpassung an die nationalsozialistische Kulturpolitik ließe sich mit ihrem Glauben an Jesus Christus, mit ihrer Bibel- und Bekenntnistreue und mit ihrer liturgischen Verwurzelung im reformatorischen Gottesdienst vereinbaren. Denn die Kirchenmusik soll dem Gotteslob und der Verkündigung des Evangeliums dienen, das stand bei aller Anpassung an den NS-Staat völlig außer Zweifel. Genau hier ist der Punkt, wo es den Nachgeborenen schwer fällt, dieses fatale Miteinander zu verstehen. Wir wissen heute, dass man sich in der Nazizeit für die Kirchenmusik öffentlich engagieren konnte, ohne sich bei der Partei anzubiedern. Das haben Walter Dr. Blankenburg, Dr. Christhard Mahrenholz, Prof. Dr. Hermann Poppen und andere bewiesen.
Den bereitwillig angepassten Kirchenmusikern fiel es damals zunehmend schwerer, dieses Miteinander von reformatorischem Christusglauben und Führertreue durchzuhalten, denn allmählich änderte sich die Lage. Leonore Siegele-Wenschkewitz brachte es auf den Punkt: „Den Kirchen ist zunehmend deutlich geworden, dass die nationalsozialistische Obrigkeit, der sie gehorsam sein wollten, das Christentum bekämpfte und damit auch die Kirchen als Repräsentanten und Träger christlicher Verkündigung und Kultur auszuschalten suchte“.8Führende Männer der evangelischen Kirche waren bereits auf Distanz zu Hitler gegangen, z.B. Otto Dibelius und Martin Niemöller. Die Nazis versuchten, die Handlungsfreiheit der Kirche zu beschränken, die Theologischen Fakultäten zu schließen und in die Kirche hineinzuregieren. Sie schwenkten allmählich auf einen kirchenfeindlichen und offen antichristlichen Kurs ein. Auch der neuheidnische Kult der Mathilde Ludendorff, des Reichsleiters Alfred Rosenberg und des SS-Reichsführers Heinrich Himmler zeigte sich immer offener. Gegen all das wehrte man sich in den Kreisen der Bekennenden Kirche und der Bruderräte. Hitler wurde für viele Männer der Bekennenden Kirche in dem Augenblick zum Feind Gottes, wo er die rechtliche und inhaltliche Freiheit der Kirche aufheben wollte. In der Regel hat nicht das Anzünden der Synagogen den Widerstand gegen das NS-Regime ausgelöst, nicht der für jedermann sichtbare Terror, nicht die Konzentrations- und Vernichtungslager, auch nicht die Kriegstreiberei und der Überfall auf beinahe alle europäischen Länder. Man hat den Kirchen nach dem Krieg mit Recht den Vorwurf gemacht, dass sie damals zwar gegen die Verletzung des Kirchenrechts tapfer protestiert haben, aber die Verletzung der Bürger- und Menschenrechte ohne hörbaren Protest geschehen ließen.
Noch schwerer zu verstehen war allerdings, was sich nach dem Selbstmord Hitlers und nach dem Ende des von ihm angezettelten Krieges in den Köpfen vieler Deutscher abspielte. Sie entdeckten nämlich, dass sie sich genau genommen gar nichts vorzuwerfen hatten. Sie meinten, im Grunde ihres Herzens wären sie schon immer dagegen gewesen und gehörten deshalb insgeheim auf die Seite der Widerständler. Ja sie fühlten sich sogar als Opfer. Auch die Kirchenmusikgeschichte von 1933 bis 1945 erschien jetzt in dieser Perspektive und wurde konsequent zu einer Geschichte des Widerstandes gegen die Nazi-Diktatur umgedeutet. Es begann mit einer Veränderung der Sprache. Wie eine schicksalhafte Wolke schien sich der Nationalsozialismus über unser Volk gelegt zu haben. Die Verbrechen der Nazis wurden nicht von deutschen Männern und Frauen begangen, sondern nur „im deutschen Namen“, sozusagen von irgendwelchen außerirdischen Mächten. Beklagt wird jetzt die Katastrophe von 1945, nicht etwa die von 1933 oder 1939. Das neue Deutschland Adolf Hitlers, für das Oskar Söhngen 1937 noch in gutem Glauben geworben hatte, wurde jetzt zur „Tragödie des Dritten Reiches“. Mit großer Geste verkündet er, dass im Fest der deutschen Kirchenmusik, bei dem er selbst noch zur Hitlertreue aufgerufen hatte, dem Dritten Reich „der Fehdehandschuh hingeworfen worden“ wäre. Eine ganze Generation von Mitkämpfern hat ihm diese Umdeutung der Geschichte nach 1945 willig abgenommen. Wie weggeblasen war das seinerzeitige Buhlen um die Gunst des NS-Staates. Verdrängt waren auch die verständlichen und ehrlich gemeinten Hoffnungen, die man Hitler und seiner Bewegung ursprünglich entgegengebracht hatte.
Sogar mit einer Märtyrerlegende kann man jetzt aufwarten. Das traurige Lebensschicksal Hugo Distlers muss dazu herhalten, die Kirchenmusik als „Kämpfende Kirchenmusik“ darzustellen. Söhngen, zu dem Distler ein enges Vertrauensverhältnis hatte, verkündet 1969, der Komponist sei „im Dritten Reich in den Tod getrieben“ worden. 1948 hatte Söhngen es noch besser gewusst, da bewegte ihn noch die Rätselhaftigkeit dieses Selbstmordes, und vielleicht wusste er noch viel mehr, denn er spricht in einer Gedenkrede anlässlich von Distlers sechstem Todestag auch von einer „leidigen persönlichen Angelegenheit“ des Komponisten. Darunter hat man jahrelang nur die drohende Einziehung zur Wehrmacht verstanden. Distler wurde jedoch von der bevorstehenden Einberufung befreit und erfuhr dies noch kurz vor seinem Tode. Gleich danach ist sein Intimfeind im Berliner Staats- und Domchor, der Gesangslehrer Bruno Kieth, vor den Chor getreten und hat das Ereignis bekannt gegeben mit dem ausdrücklichen und ehrenrührig gemeinten Hinweis, dass Distler sich umgebracht habe, weil er nicht Soldat werden wollte. Das geht aus einem Dokument des SS-Führungshauptamtes Berlin hervor. Gewiss hatte Distler eine Reihe von Frustrationen zu bewältigen. So litt er jahrelang darunter, dass seine Musik von der Reichsjugendführung nicht als die Musik der Zukunft betrachtet wurde. Belastet hat ihn auch, dass sein Cembalokonzert op. 14 beim Fest der deutschen Kirchenmusik von einem der Kritiker als „entartet“ bezeichnet worden ist. Allerdings hatte das keinerlei politische Gründe, denn damit war lediglich gemeint, dass er das [ich zitiere aus der damaligen Pressekritik:] „zarte Hausmusikinstrument Cembalo in widernatürlicher Weise wie einen Flügel“ bearbeiten lässt. Söhngen macht daraus eine politische Gefährdung oder gar Verfolgung Distlers, obwohl er wusste, dass der Präsident der NS-Reichsmusikkammer, Prof. Dr. Peter Raabe, die Uraufführung von Distlers Cembalokonzert persönlich dirigiert hatte. Vielleicht wusste Söhngen sogar etwas aus dem Leben Distlers, das die Öffentlichkeit erst im Jahre 2003 erfahren hat. Möglicherweise war das jene „leidige persönliche Angelegenheit“, von der Distler am Vorabend seines Todes zu Söhngen am Telefon gesprochen hatte. In Heft 1/2003 von Forum Kirchenmusik berichtet Distlers Tochter Barbara in einem Gespräch mit Jürgen Buch von der Ehekrise ihres Vaters, von der Trennung der Familie und von einer außerehelichen Liebesbeziehung, die er nicht zu lösen vermochte. Sie meint, dass er dadurch in sich selber den Todeskern gelegt habe. Wir können das psychische Leiden Hugo Distlers, das sein ganzes Leben begleitete und zu mehreren Selbstmordversuchen geführt hat, nur mit Hochachtung zur Kenntnis nehmen. Sicher kam bei ihm Vieles zusammen, nur eines nicht, dass der Mann, dem wir das wundervolle Mörike-Liederbuch verdanken, der Märtyrer einer kämpfenden Kirchenmusik gewesen sei.
Oskar Söhngen und alle, die nach 1945 so handelten wie er, haben der evangelischen Kirchenmusik eine Lebenslüge aufgebürdet, von der nur schwer wieder loszukommen war. Wir fragen uns, was eine Reihe von verdienstvollen und bedeutenden Persönlichkeiten der Erneuerungsbewegung wohl bewogen haben mag, so lieblos und unaufrichtig mit ihrer eigenen Geschichte und mit der Geschichte der evangelischen Kirchenmusik umzugehen. Die ersten kritischen Nachfragen waren schon 1963 durch Helmut Bornefeld gestellt worden, und Clytus Gottwald hakte 1969 abermals nach. Aber erst Anfang der Achtzigerjahre wurde die Geschichtsverdrehung massiv in Zweifel gezogen durch Hans Prolingheuer. Anlass dazu waren mehrere weihrauchgeschwängerte Artikel über das Fest der deutschen Kirchenmusik in der Zeitschrift Der Kirchenchor und in anderen kirchenmusikalischen Presseorganen. Die Heroisierung dieses Festes weckte Zweifel, und manch einer schaute daraufhin in den damaligen Kirchenmusikzeitschriften, im Festprogramm und in den wörtlich veröffentlichten Referaten und Ansprachen nach. Da konnte man vom Widerstand gegen Hitler nichts lesen. Im Gegenteil. Otto Brodde pries 1937 in „Musik und Kirche“ „die völkische Erhebung durch einen ohne jeden Zweifel von Gott dazu bestimmten und begnadeten Führer“. Aber 1980 schrieb er in der Zeitschrift Der Kirchenchor einen Artikel mit der Überschrift „Denkt an eure Lehrer“. Da liest man gleich auf der ersten Seite, das Fest der deutschen Kirchenmusik sei eine Dennoch-Demonstration gegen den Nazigeist gewesen.
Von 1987 an begann eine öffentliche Diskussion, die durch eine Tagung der Evangelischen Studentengemeinde Essen eingeleitet und in drei folgenden Tagungen der Evangelischen Akademie Arnoldshain fortgesetzt wurde. Dem damaligen Schriftleiter der Zeitschrift Der Kirchenmusiker und hessen-nassauischen Landeskirchenmusikdirektor Dr. Dietrich Schuberth verdanken wir, dass viele dieser Vorträge im Kirchenmusiker veröffentlicht wurden. Ich weiß, dass die Veröffentlichung solcher kritischen Gedanken damals nur gegen mancherlei Widerstand durchgesetzt werden konnte. 1995 erschien der Sammelband Kirchenmusik im Nationalsozialismus,in dem die Referate noch einmal nachgedruckt wurden.
Rückblickend muss man sagen, dass die meisten dieser Beiträge damals von einem ehrlichen und aus der Sache heraus verständlichen Zorn getragen waren. Wir fühlten uns betrogen und belogen und konnten nicht fassen, was bei den Nachforschungen alles zu Tage kam. Es folgten etliche Versuche, mit den betroffenen Herren darüber ins Gespräch zu kommen. Von Martin Gotthard Schneider weiß ich, dass er während seiner Vikarszeit an der Heidelberger Christuskirche mit dem dortigen Organisten Dr. Herbert Haag zu sprechen versucht hat, aber der hat nur indigniert geschwiegen und sich auf kein Gespräch darüber eingelassen. Ich selbst habe mit Oskar Söhngen gesprochen anlässlich der Herausgabe meines liturgischen Quellenbandes 1968. Söhngen hat als Sachberater des Verlages darauf bestanden, dass keine Quelle aus der Zeit des Dritten Reiches in den Band aufgenommen wird. Er hätte ansonsten den Druck verhindert. An Otto Brodde schrieb ich im Juni 1981 einen Brief mit der Bitte um Stellungnahme und Gespräch über jene Zeit. Meine letzten Sätze lauteten [ich zitiere]:
Bitte versuchen Sie zu verstehen, in welchem Maße wir Jugendlichen uns 1945 von jenem Führer getäuscht, missbraucht und verlassen gefühlt haben. Heute ahnen wir, die wir selbst in der Mitte unseres Lebens stehen und Verantwortung tragen, dass auch Sie damals gelitten haben müssen. Wie sind Sie mit dieser Wende in Ihrem Leben fertig geworden? ... Wir haben nicht mehr viel Zeit, dieses Stück Geschichte der deutschen evangelischen Kirchenmusik zu verarbeiten. Eine nachfolgende Generation kann uns das nicht abnehmen. Mit herzlichen Grüßen Wolfgang Herbst
Es wäre ein Gebot der Fairness, an dieser Stelle auch die Stellungnahme Broddes mitzuteilen, aber Brodde schwieg wie ein Denkmal und hat darauf nie geantwortet, obwohl wir uns gut kannten und uns im Beirat der Internationalen Heinrich-Schütz-Gesellschaft regelmäßig trafen.
Wer die kirchenmusikalische Widerstandslegende zum Thema machen oder Kritik an Oskar Söhngen und seinen Freunden üben wollte, bekam in der Regel zwei stereotype Antworten:
Auf diese Weise wurde jede Aufarbeitung jahrelang konsequent abgeblockt. Es scheint, als wären die damals als Wortführer der Kirchenmusik aufgetretenen Personen nach dem Krieg traumatisiert gewesen. Sie wehrten sich konsequent gegen jedes Eingeständnis von Fehlern, weil sie glaubten, ihre Autorität würde dabei schwinden. Kurt Thomas war ein hochangesehener Chorleiter und Pädagoge, aber er hat den Teilnehmern seiner Kurse immer wieder eingeschärft, der Chorleiter dürfe niemals einen Fehler zugeben, weil die Chormitglieder dann nicht mehr an ihn glauben könnten. Und in der Tat war es Generationen lang eine Devise von Eltern und Lehrern, sie müssten immer eine Aura von Fehlerlosigkeit um sich herum verbreiten, damit die Kinder nicht ins Zweifeln geraten. Fragen wurden dementsprechend oft genug als Frechheit oder Provokation empfunden.
Allerdings gab es in der Nach-Nazizeit auch Männer, die sich solcher Zwangsläufigkeit entzogen und die die Regeln einer schwarzen Pädagogik durchbrochen haben. Der einstige Musikreferent der nationalsozialistischen Reichsjugendführung, Wolfgang Stumme, hat später ganz offen Rede und Antwort gestanden. Von seinen jungen Zuhörern in der Heimvolkshochschule Burg Fürsteneck wurde ihm dafür Achtung entgegengebracht. Eine ähnliche Gesprächsbereitschaft ist mir von keinem der nach dem Krieg in leitende Positionen aufgerückten Kirchenmusiker bekannt geworden. Denn sie alle, Oskar Söhngen, Kurt Thomas, Wilhelm Ehmann, Wolfgang Reimann, Wolfgang Auler, Herbert Haag, Gerhard Schwarz, Otto Brodde und wie sie alle heißen, sind Professoren für Kirchenmusik geworden und haben nach 1945 junge Kirchenmusikerinnen und -musiker ausgebildet.
Niemand verlangt im Nachhinein, die führenden Kirchenmusiker Deutschlands hätten damals mutige Widerstandskämpfer sein sollen. Wer weiß denn, ob wir selbst das unter den damaligen Umständen gewesen wären. Aber das wäre das Größte gewesen, was sie uns hätten schenken können: ein offenes, klärendes Gespräch über den Irrweg der Hitlernachfolge und wie es dazu kam. Die allseitige Achtung wäre ihnen dabei sicher gewesen.
Die Zeit des Zornes darf nun vorüber sein, denn sie alle, über die man sich damals mit Recht geärgert hat, sind inzwischen gestorben. Neue Erkenntnisse über das Problem Kirchenmusik und Nationalsozialismus sind kaum noch zu erwarten, wohl aber hier und da eine Bestätigung dessen, was wir schon wissen. Die evangelische Kirchenmusik braucht die lächerlichen Heldengeschichten ihrer Großväter nicht. Ihre selbsterfundenen Widerstandslegenden sind als ganz banaler deutscher Normalfall entlarvt worden. Deshalb sollten wir nach vorne schauen und uns angesichts der vor uns liegenden schweren Aufgaben nicht zusätzlich mit einer Lebenslüge belasten. Ganz sicher werden wir uns dann in aller Freiheit auch zu den historischen Leistungen unserer kirchenmusikalischen Väter bekennen können.
1 Die in Klammern gesetzten Zahlen sind Seitenzahlen des folgenden Buches: Dietrich Schuberth (Hg.), Kirchenmusik im Nationalsozialismus, Kassel 1995.
2 Ein neues Lied. Ein Liederbuch für die deutsche evangelische Jugend herausgegeben vom Evangelischen Reichsverband weiblicher Jugend. 2. Aufl. Berlin 1933, Nr. 495.
3 Die neue Kirchenmusik Wandlungen und Entscheidungen, Berlin 1937, S. 41.
4 Kirchenmusik heute, Vorträge, gehalten auf der Jahrestagung der Landesverbände der ev. Kirchenmusiker und der ev. Kirchenchöre Westfalens vom 6. bis 10. Okt. 1938 in Soest, S.32f.
5 Musica sacra zwischen gestern und morgen, Göttingen 1979, S. 147.
Oskar Söhngen, Kirchenmusik und Avantgardismus (1952), in: Die Wiedergeburt der Kirchenmusik, Kassel 1953, S. 112.
6 Dieter Zahn, „Solange ich hier bin“. Evaristos Glassner und die evangelische Kirchenmusik im Dritten Reich, in: MuK 3/1989, S. 137.
7 Die Kirchen zwischen Anpassung und Widerstand im Dritten Reich, in: Hüffmeier/Stöhr (Hg.), Barmer Theologische Erklärung 1934–1984. Geschichte – Wirkung – Defizite, Bielefeld 1984, S. 23.
8 Wolfgang Dinglinger, 150 Jahre Staats- und Domchor Berlin (Königlicher Hof- und Domchor) 1843–1993. Berlin 1993, S. 136.
Aufruf zur Absage der Ehrung des Kirchenmusikers Kurt Thomas
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