Offensive? Neue Bewegung?

Arbeiterkampf (AK) vom 21. Oktober 1985 - Kommetar/Analyse

Der Tod von Günter Sare löste eine Welle des Protestes aus. Es gibt kaum eine mittelgroße Stadt in der BRD, in der sich spontaner Zorn und Trauer in den Tagen danach nicht unmittelbar entluden.

Die Politiker des Landes und die veröffentlichte Meinung sahen wieder einmal die öffentliche Sicherheit durch die Gewalt von der Straße in Gefahr. Schon wenige Tage nach dem Tod Günter Sares konnte "Die Welt" eine ganz offensichtlich von der Polizei gelieferte "Dokumentation der Gewalt" veröffentlichen. Darin werden ca. 50 Städte aufgezählt, die bis zum 2.10. von nächtlichem "Glasbruch", Brandanschlägen und "Spontandemonstrationen", in deren Verlauf weitere Scheiben von Banken, Kaufhäusern uam. zu Bruch gingen, heimgesucht worden seien. Von 726 vorübergehend Festgenommenen ist die Rede. Sie wurden bei Einkesselungs- und Präventivmaßnahmen der Polizei gleich dutzendweise, z,T. als ganze Demonstrationszüge festgesetzt. 60 Menschen wurden verhaftet. Die Versicherungsschäden betragen angeblich Millionen. Eine Woche später ließ Bundesinnenminister Zimmermann verbreiten, durch den Tod von Günter Sare sei die "linksextreme Szene schlagartig aktiviert" worden. In über 90 Städten habe es Ausschreitungen gegeben. Über Schäden im Zusammenhang mit Spontan-Demonstrationen und Kundgebungen hinaus seien seither Tag für Tag auch Anschläge, zumeist gekop­ pelt mit Brandsätzen, auf Polizeistationen, Banken, und Kaufhäuser durchgeführt worden.

Auf Seiten der Linken gibt es bisher keine annähernd vollständige und ins Detail gehende eigene Übersicht über das Ausmaß und die Art der Proteste, sowie deren Opfer an Verletzten und Verhafteten. Dies wird nachzuliefern sein. Einige Charakteristika aber, über die nachzudenken lohnt, lassen sich bereits beim jetzigen Informations­ stand festhalten:

Erstens die entsetzlichen Ausschnre tungen, die den Bürger beim Lesen der Boulevardpresse erbleichen ließen: Wenn in Frankfurt beispielsweise 350 qm Glas zu Bruch gingen, so entspricht das grob geschätzt weniger als 1% der Fassade der Deutschen Bank-Zentrale (es gibt darüber hinaus an die hundert Filialen dieses Unternehmens allein in Frankfurt, es gibt dort ferner rund 150 weitere Bankhäuser mit ihren jeweiligen Filialen). Die angegebenen Schadenssummen, deren Überprüfung , unsere Möglichkeiten überschreitet, dürften in den Chefetagen der Versi­cherungskonzerne als ökonomischer Faktor nicht einmal mit der Lupe wahrgenommen werden.

Zweitens: In der Regel äußerte sich der Protest zunächst in spontanen Aktionen, bei denen die Effektivität von den Beteiligten offenbar mehr am 'Klirrfaktor', weniger dagegen an der Vermittlung politischer Inhalte an die Bevölkerung gemessen wurde. Die Pa­ rolen dazu lauteten: Rache für Günter Sare! Wir lassen uns nicht kleinkriegen. Feuer und Flamme für diesen Staat usw. Es soll hier nichts gegen die Berechtigung spontaner Äußerungen des Zorns und selbst nichts gegen die aus hilfloser Wut gegen die Verlogenheit und den repressiven Charakter die­ses Systems resultierende ziellose Randale gesagt sein. Aber es gilt zu sehen, daß selbst Kundgebungen und Protestdemonstrationen zumeist spontan und mit geringem Mobilisierungsanlauf, d.h. auch geringer Außenwirkung ge­ genüber der Bevölkerung zustande ka­ men. Sicher nicht allein, aber auch des­ wegen liegen die Durchschnittszahlen der Demos und Kundgebungen außer­ halb Frankfurts etwa bei nur ca. 100. Faktisch demonstrierte die Linke unter sich ihre eigene Betroffenheit. Aktionen mit längerem Mobilisierungsan­ lauf gab es ansatzweise in WestBerlin. Ausschließlich in Hamburg gelang eine längerfristige Mobilisierung für eine zentrale Demonstration am 5.10. Mit ca. 5.000 Menschen stellt diese Demonstration eine Ausnahme unter den bisherigen Protestaktionen nach den Frankfurter Ereignissen dar.

Drittens: Auffallend ist die ganz un­ gewöhnliche Bereitschaft der DKP und ihres gesamten Spektrums, vor allen anderen der VVN/BdA, zur weitgehend bedingungslosen Kooperation mit der radikalen Linken bis hin zu den 'schwarzen Blöcken'. Wo immer Aktionsbündnisse zustandekamen, war das DKP-Spektrum mit von der Partie. Die "UZ" verzichtete so gut wie ganz auf ihre bisher bei solchen Gelegenhei­ ten übliche penetrante Warnung vor "Provokateuren". Sie beschuldigte stattdessen die Polizei eindeutig, Schuld am Tod Günter Sares zu sein und ihrerseits die Unruhen provoziert zu haben. Statt der von ihr aus der Vergangenheit bekannten Spaltungslinie - noch sattsam in Erinnerung z.B. aus dem Anti-Strauß-Wahlkampf - propagierte sie "jetzt den antifaschistischen Wiederstand zu verbreitern". Für die staatstragende Presse war dies Anlaß genug zu verbreiten, d er-Befehl-zur Entfachung des-Terrors sei direkt von Gorbatschow und Hon- -ecker ausgegeben worden.

Tatsache ist, daß durch die überraschende Kooperationsbereitschaft des DKP-Spektrums eine in den letzten Jahren nicht gekannte Gemeinsamkeit eines linken antifaschistischen Prote­ stes zustandekam. Es ist zu hoffen, daß dies keine Augenblicks- Erscheinung bleibt.

Viertens: Die parlamentarische, linkssozialdemokratische und liberale sog. demokratische Öffentlichkeit wurde unter den Protestlern so gut wie nicht gesichtet. Zwar rangen sich die GRÜNEN Hessens ein paar verbalra­ dikale Proteste ab. Für das Eingehen einer Koalition mit den für solche Poli­zeieinsätze Verantwortlichen ließen sie sich jedoch mal eben gerade eine müde Woche Schamfrist. Lediglich in Ham­ burg und Westberlin trugen die GAL und die AL aktiv zu den Protesten bei. Im übrigen hielt sich die Bundestagsfraktion der Grünen vollständig bedeckt.

Die Jusos und andere linkssozialdemokratische Kräfte ließen sich ebenfalls nicht blicken: in Hamburg erklärten die Jusos nach der Demonstration, sie hätten von den Verhandlungen nichts gewußt, obwohl die über eine Woche öffentlich geführt worden waren. In Kiel unterstellten sie der geplanten Demonstration öffentlich beabsichtigte Randale, distanzierten sich und demobilisierten. Proteste einschlägiger sozialdemokratischer Organisationen wie „Arbeitskreis sozialdemokratischer Juristen" u.a. - Fehlanzeige. Auch bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die bei früheren Gelegenheiten warnend ihre Stimme zu erheben pflegten, übten sich in Zurückhaltung.

Stattdessen echote auch aus dieser Ecke die neuaufgelegte Anti-Terrorismus-Hetze der Staatsschutzorgane. Charakteristisch dafür z.B. das —-zu allem Überfluß noch unsäglich platte - Agitations-Schnell-Gedicht von Gerhard Zwerenz, in dem er die eigentliche Gefahr der NPD darin sieht, der RAF neue Kader zuzutreiben - das kommentarlos nachzudrucken sich die „taz" nicht zu blöd war!

Charakteristisch dafür auch ein ansonsten eher gegen den Frankfurter Polizeieinsatz engagierter Bericht in der „Zeit" vom 18.10., in dem am Schluß die Frage steht: „Endstation RAF?" .

Zwei Stimmen für viele: ein Gespenst geht wieder mal um. Distanzierung vom Terrorismus , als ob dieser den Toten zu verantworten hätte und nicht die repressive Politik dieses Staates gegenüber sozial und politisch unruhigen Minderheiten bei gleichzeitigem Polizeischutz für Nazis.

Zweifellos hat es eine Welle von Randale und Protesten gegeben, die sich von der relativen Ruhe der letzten zwei drei Jahre abhebt. Vielleicht ist sogar die radikale Linke bei diesen Protesten trotz aller Differenzen etwas zusammengerückt. Von einer Offensive, selbst nur von einer Verbreiterung des antifaschistischen Widerstands wird man aber nicht ernsthaft reden können: Bisher jedenfalls haben die Proteste die aktuelle Isolations- und Kriminalisierungs-Taktik der Strategen der 'Inneren Sicherheit' trotz einzelner Erfolge wie z.B. bei der Hamburger Demonstration nicht wirksam durchbrechen können. Der linksradikale Protest steht in der Ecke der Gewalttäter und Terroristen. Wenn eine Offensive geboten ist, dann die politische Durchbrechung dieser Isolation. An diesem Maßstab müssen die Erfolge der Proteste gemessen werden.

F.