Einschätzungspapier aus Berlin

Auszüge aus einem Papier, daß wir aus Berlin erhielten, leider ist es das einzige Papier, daß wir aus einer anderen Stadt bekommen haben.

Zu den Aktionen von Sonntag und Montag

Am Sonntagnachmittag fand die erste Vollversammlung statt. Die Leute hatten alle eine Mordswut im Bauch, die - das war von allen auch so akzeptiert - nicht nur im Kiez rausgelassen werden sollte, sondern in die Zufriedenheit der Bürger reinbrechen sollte. Also war der Beschluß schnell gefaßt, sich gegen 21.00 Uhr am Kudamm zu treffen, um der Wut materiell Ausdruck zu verleihen. Später, so war ebenfalls Konsens, wollten wir auf unserem Terrain (also im Kiez) nochmal die Konfrontation. Was dann von einigen Leuten bis 21.00 Uhr in Szene gesetzt wurde, konnte bis jetzt nicht geklärt werden. Kurz nach 20.00 Uhr blendete sich in der ARD ein Piratensender ein und verkündete kraftvoll den Treffpunkt am Kudamm. Auf dem am Nachmittag stattgefundenen Frauenstraßenfest soll sich gerüchteweise ein Zettel befunden haben, in dem von einem Treffen am Kudamm die Rede war. Lange Rede kurzer Sinn -als sich um 21.00 Uhr ca. 400 entschlossene Leute einfanden, hatten die Bullen schon Vorsorge getroffen und waren bereits mit 20-30 Wannen vertreten.

 

Wir zogen dann trotzdem los und schafften durch Zugspaltungen und den üblichen Touristenrummel die Bullen soweit zu verwirren, daß einige Scheiben ihren stabilen Bestand aufgaben. Da sich die meisten Leute an der Masse orientierten und nur wenige Gruppen das Konzept konsequent verfolgten, ging nur so wenig zu Bruch.

Durch Observation der U-Bahnhöfe im Kiez war es für die Bullen äußerst leicht, die Leute bei dem unkonspirativen Aussteigen und zielstrebigen Aufmarsch zum Lausitzer-Platz auszumachen und den Treff damit auffliegen zu lassen. Darauf zogen die Leute in Grüppchen zum O-Platz. Dort löste ein Provokateur dann die Äktschn aus. Ein kurzer Demozug währte 10 Min., dann waren die Bullen von allen Seiten zur Stelle, so daß es sich dann endgültig in kleine Gruppen aufsplitterte, die bis ungefähr 3 Uhr den Bullen kürzere Gefechte lieferten. Meist sich aber darauf beschränkten, Bauwagen umzukippen und Baustellenmaterial aufzuschichten, dabei kam es zu einigen Festnahmen.

Es fiel auf, daß E-Wannen (in der Friesenwache stationiert und für Kreuzberg zuständig) den ganzen Abend fehlten. Die Pigs hatten wohl durch den Marathonlauf schon viele überstunden hinter sich. Das heißt, wir hatten an dem Abend eigentlich ziemlich gute Karten. Die Wannen fuhren meist vereinzelt und desorientiert umher und es gab keine größeren Ausfälle seitens der Bullen. Diese Unsicherheit in der Taktik der Bullen haben wir aber nicht ausgenutzt. Das lag, wie schon auf der Kudamm-Demo, wohl hauptsächlich daran, daß es nicht genügend Bezugsgruppen gab. Damit meinen wir Leute, die sich kennen, Vertrauen haben, sich Sicherheit geben können und aufeinander aufpassen. Das bedeutet die Möglichkeiten und Fähigkeiten und die Angst von den Anderen einschätzen zu können, um daraus eine Aktionsfähigkeit zu entwickeln.

Statt dessen gab es zusammengewürfelte Trupps, in denen jede/r mit dem Nerv über die Unfähigkeit der anderen oder mit der eigenen Unentschlossenheit zu kämpfen hatte.

Dieses unterbindet ein offensives phantasievolles Agieren im Straßenkampf, der es schaffen könnte, die Bullen in ständige Unsicherheit hier im Kiez zu treiben.

Die offizielle Demo der AL am Montag über den Kudamm war dann vollkommen in Bullenhand, die über Tausend aufgeboten hatten und außerdem die Schaufensterscheiben durch ganze Zivitrupps absicherten. Es gab einen VV-Beschluß, am Kranzlereck die Demo zu verlassen -daran hat sich kaum einer gehalten. Es stellt sich die Frage, was VV-Beschlüsse überhaupt sollen, wenn sie übergangen werden, wie schon zwei Wochen vorher bei der Südafrika-Demo betreffs Vermummung.

Staatsschutzchef Gantschow hatte schon nachmittags angeküdigt, daß die Bullen uns abends im Kiez erwarten würden. So war es dann auch. Kaum eine Seitenstraße, die nicht doppelt und dreifach besetzt war. Einige Leute waren dann dennoch auf der Straße, vereinzelt soll es dann auch ganz gut gekracht haben. Aber insgesamt hatten die Bullen die Regie übernommen - es gab über 50 Festnahmen, darunter einfache Kreuzberger Bevölkerung und Touristen.

Die VV

Wir versuchen jetzt darauf einzugehen, wie die Diskussion auf der zweiten VV ablief, zu einem Zeitpunkt, in der nach Montag am Sonntag die erst Verschnaufpause eingelegt wurde, die Stimmung aber weiterhin angespannt war. Die Diskussion lief nicht so gegliedert, wie sie jetzt in drei Schwerpunkten dargestellt wird, sie lief eher teils polemisch, mit viel Rumgepisse ab, von einem Schwerpunkt zum anderen springend. Der erste Schwerpunkt beleuchtete die Aktivitäten der Militanten selbst, daß es immer noch Leute gibt, die meinen BVG-Busse, Scheiben von irgendwelchen kleinen Geschäften, oder auch nur Laternen, würden als Angriffsziele gut genug sein. Die Umgehensweise mit solchen Leuten ist schwer, da diese nicht auf Plenen anwesend sind, sondern sich auf der Straße halt mit einklinken. Aber es ist klar, daß gerade solche Aktionen einen erheblichen Teil zur Distanz zur Bevölkerung beitragen. Das. Problem kann nur durch die Verantwortung der Militanten gelöst werden, d.h. solche Leute bei so 'ner hirnlosen Aktschen abhalten. Verantwortung bedeutet aber auch, Aktionen mehrmals zu überlegen, wenn daneben ein unbeteiligter Haufen steht, der dann von den Pigs aufgemischt oder eingefahren wird, weil er eine leichte Beute darstellt. Hierbei kam es zu heftigen Kontroversen, in wieweit Leute selbst schuld wären, wenn sie an einem Tag, wie am Montag auf der Straße rumstehen, um zu glotzen.

Den zweiten und dritten Schwerpunkt dieser VV wollen wir hier nicht nicht abdrucken, da es sich um taktisch-politische Sachen handelt, nämlich, wie man die Bevölkerung miteinbezieht, usw... . Wir konnten nicht in Berlin rückfragen, ob dies in Ordnung sei.
Macht bloß weiter an dem Punkt!!!

Insgesamt war die Stimmung der VV so, daß die Enttäuschung über die letzten Tage noch tief steckte und daher viele Themen aufkamen, über die es sich gelohnt hätte, intensiver zu diskutieren bzw. eine Auseinandersetzung unter uns zu entfachen. Da aber die Ungeduld der Leute groß war, doch noch schnell etwas greifbares, effektives auf die Beine zu stellen, und Diskussionen durch das allgemein übliche Erscheinungsbild:

in eine kalte, technische Atmosphäre des Aneinandervor-beiredens abdriftete, die jegliche Ansätze schnell verebben ließ.
übrig blieb, nachdem viele schon abgewandert waren, die Planung der Demo, mit der sich schließlich alle zufrieden gaben. Die Demo war gut und richtig, aber sie wurde als typische Lösung auf den Tisch gebracht und Diskussionen über uns und unsere Militanz, bzw. das noch vorhandene Bedürfnis, es nochmals auf die Straße zu tragen, wurde damit vertagt, und schließlich endgültig aus den Köpfen gebeamt. Nach dem Motto: es gibt viel zu klären, aber wir müssen handeln, also Öffentlichkeitsarbeit!

DANACH !?!?!?! !!!

Die Kiezdemo war 'ne gute Stimmungsdemo mit kräftiger Bulleneskorte. Die Flugis fanden unterschiedlichen Absatz, von den Türken/innen aber meist wohlwollender aufgenommen , als bei den Deutschen. über die Beteiligung anderer Leute läßt sich soweit aussagen , daß uns ganze Trupps auf den Bürgersteigen begleiteten.

Die VV danach spiegelte das Erschlaffen der Szene wieder. Noch ca. 30 Leute trafen sich, die aber nach einstündiger Diskussion resigniert aufgaben.

Des nächtens waren die ganze Zeit zwar einige Gruppen unterwegs, bei den meisten scheiterte es aber an der fetten Zivi-Präsenz, die bis zum Wochenende anhielt. Zusammen kamen wir dann nochmal auf der Beerdigungs-Demo, die wieder in der City ablief. Die Demo war von der AL, aber leutemäßig eine von uns. Die Bullen nutzten sie aus, und knipsten unverschämt viel, es wird also weiterhin nötig
sein, sich mit der Vermummung auseinanderzusetzen und Vereinzelung in diesem Punkt unbedingt zu vermeiden.

Noch abschließende Worte zur AL:

Gerade an den letzten zwei Demos hat sich das Dilemma der AL wieder einmal bewiesen. Auf der einen Seite die Kiez-Demo, bei der sich die AL uns gegenüber korrekt verhielt, d.h. im Bemühen war, auf unseren Zug mit aufzuspringen. Bei der Beerdigungsdemo hat sich dann ^aber gezeigt, daß sie über-.haupt keine Mobilisierungskraft hat.

Bewegung von unten entsteht nicht durch die AL.

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