Erklärung des Nationalrats für die Einforderung von Kriegsschulden Deutschlands gegenüber Griechenland

Lyngiades Ioannina, 7.3.2014

 Mit Ehrerbietung, Wertschätzung und Gefühlen der Solidarität gegenüber dem deutschen Volk empfangen wir den Herrn Bundespräsidenten Joachim Gauck in Griechenland. Für den Nationalrat ist dies - ebenso wie für das gesamte griechische Volk – aber auch eine Gelegenheit, die noch nicht eingelöste Verpflichtung Deutschlands gegenüber der Geschichte in Erinnerung zu rufen: die Übernahme der Verantwortung und tätige Wiedergutmachung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die das „Dritte Reich“  in  Griechenland begangen hat.

Der Besuch des Bundespräsidenten, bei dem er Märtyrerorte in unserem Land besuchen und sich vor den Opfern verneigen wird, ist von tiefer Symbolkraft, und wir hoffen, dass dies nicht nur als Geste an der Oberfläche bleiben, sondern dass dieser Besuch auch in der Realität Wirksamkeit entfalten möge.

Die im Holocaust fast vollständig vernichtete jüdische Gemeinde von Joannina, deren Angehörige von Soldaten der Nazi-Wehrmacht gewaltsam in die Gaskammern und Krematorien von Auschwitz getrieben wurden, und der Märtyrerort Lyngiades, ein kleines Dorf, in dem Soldaten der Nazi-Wehrmacht 82 unschuldige und friedliebende Zivilisten kaltblütig ermordeten – unter ihnen Säuglinge, Kinder, Frauen und Greise – sind Menetekel der NS-Barbarei; sie hat in Griechenland das Ausmaß einer endzeitlichen Katastrophe angenommen. Das Massaker von Lyngiades, das jahrzehntelang in Vergessenheit geraten war, bis es ein deutscher Wissenschaftler, Prof. Christoph Schminck-Gustavus, nach systematischen und langjährigen Recherchen im Detail dokumentiert und wieder ans Licht gebracht hat, ist zugleich auch ein Symbol des Kampfes gegen die Verfälschung der Geschichte und gegen das Einsargen der Erinnerung.

Die Bilanz des Angriffs der Nazi-Wehrmacht gegen unser Land und seine unschuldigen Bürger ist tragisch und ihre Folgen noch heute sichtbar: mehr als 100 Holocaust-Verbrechen mit Zehntausenden getöteter Zivilisten haben die Besatzungstruppen begangen; 1770 Dörfer wurden niedergebrannt, mehr als 400.000 Häuser eingeäschert. Unser Land erlitt eine nie gesehene Katastrophe von biblischen Ausmaßen von einer Größe und einem Umfang wie es  kein anderes Land erlitten hat. Infolge der Bombardierungen, der Massenhinrichtungen, der Hungersnöte, der Epidemien und des Geburtenrückgangs verlor unser Land 13,5% seiner Bevölkerung. Demgegenüber hat die UdSSR  im Krieg 10%, Polen 8 % und Jugoslawien 6% seiner Gesamtbevölkerung verloren.

Zugleich erlitt unser Land eine unglaubliche wirtschaftliche Katastrophe: die Infrastruktur wurde verwüstet, die Ressourcen geplündert. Kulturgüter und archäologische Schätze gestohlen und nach Deutschland abtransportiert. Am Kulturerbe des Landes sind dadurch nicht wiederherstellbare Schäden angerichtet worden.

Und dennoch: Auch 70 Jahre nach dem Ende der Besatzung und 24 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands hat unser Land noch keine Wiedergutmachung, keine Entschädigung von der Bundesrepublik erhalten. Und dies, obwohl alle anderen, damals von der Wehrmacht besetzten Länder solche  Wiedergutmachungsleistungen erhalten haben – alle, nur nicht Griechenland. Warum?

Des weiteren: auch der damals  erhobene Zwangskredit für die Besatzungskosten ist unserem Land nicht - wie versprochen - zurückerstattet worden, während die entsprechenden Zwangskredite an andere Länder wie Polen und Jugoslawien zurückgezahlt wurden. Warum?

Und schließlich: Die aus  Griechenland geraubten Altertümer und archäologischen Kunstwerke von unschätzbarem Wert sind auch nicht zurückgegeben worden. Warum?

Wie erklärt sich diese unbegreifliche Haltung unserem Land gegenüber?

70 Jahre lang sind diese drängenden Fragen ohne Antwort geblieben. Es hat bislang nur einige halblaute Worte des Bedauerns gegeben. Soll es dabei bleiben und wie lange noch? Es ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, wo sich Deutschland endlich zu seiner Verantwortung bekennen und ehrliche Reue für die Untaten und Verbrechen des „Dritten Reichs“ gegenüber Griechenland bekennen  muss. Aufrichtig und durch Taten! Die ehrliche Bitte um Vergebung muss begleitet werden von Taten der Gerechtigkeit und Wiedergutmachung!

Ernster Wille und Mut sind hierzu erforderlich. Dann werden sich auch Wege finden lassen,  um die verdrängten Fragen deutscher Kriegsschulden gegenüber Griechenland zu lösen. Lasst uns gemeinsam die Mauern der Gleichgültigkeit und der Härte gegenüber dem griechischen Volk durchbrechen! Auf demokratischem Wege, mit Zugeständnissen von beiden Seiten, ohne Feindschaft und alte Schmerzen1! Wir haben hierbei als Grundsatz den Leitgedanken: «ΔικαιοσύνηΌχι εκδίκηση - Gerechtigkeit, keine Rache!»

So empfangen wir im Epirus den ersten Bürger der Bundesrepublik Deutschland, indem wir zugleich unseren Kampf für Gerechtigkeit gegenüber dem griechischen Volk verstärken. Es ist dies ein Kampf, der nicht nur Unterstützung vom gesamten griechischen Volk, sondern auch von zahllosen demokratisch gesinnten Menschen in Deutschland erfährt; auch sie fordern «Gerechtigkeit und Wiedergutmachung!» für die Opfer der Nazi-Barbarei in Griechenland.

Die von Griechenland gebrachten Opfer haben in unschätzbarer Weise zur Befreiung vom Joch der NS-Herrschaft für Europa und auch für Deutschland beigetragen. Das darf niemals vergessen werden, auch heute nicht. Es ist von herausragender Bedeutung für das Bewusstsein einer auf ethische Prinzipien gegründeten Weltordnung. Es ist so auch notwendige Voraussetzung dafür, dass wir endgültig das Schwarzbuch der NS-Herrschaft schließen können und dass unsere beiden Länder und Völker ein neues Kapitel in ihrer Geschichte aufschlagen: ein Kapitel des Friedens, der Freundschaft und Zusammenarbeit auf der Basis der Gleichberechtigung, der Aufrichtigkeit und des gegenseitigen Verständnisses. So werden wir gemeinsam unsere Zukunftsziele für die nach uns kommenden Generationen erreichen.

Gauck in Griechenland: Schuld und Schulden

www.holocaust.gr 

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