Lyngiades Ioannina, 7.3.2014
Der Besuch des
Bundespräsidenten, bei dem er Märtyrerorte in unserem Land besuchen und sich
vor den Opfern verneigen wird, ist von tiefer Symbolkraft, und wir hoffen,
dass dies nicht nur als Geste an der Oberfläche bleiben, sondern dass dieser
Besuch auch in der Realität Wirksamkeit entfalten möge.
Die im Holocaust fast
vollständig vernichtete jüdische Gemeinde von Joannina, deren Angehörige von
Soldaten der Nazi-Wehrmacht gewaltsam in die Gaskammern und Krematorien von
Auschwitz getrieben wurden, und der Märtyrerort Lyngiades, ein kleines Dorf,
in dem Soldaten der Nazi-Wehrmacht 82 unschuldige und friedliebende
Zivilisten kaltblütig ermordeten – unter ihnen Säuglinge, Kinder, Frauen und
Greise – sind Menetekel der NS-Barbarei; sie hat in Griechenland das Ausmaß
einer endzeitlichen Katastrophe angenommen. Das Massaker von Lyngiades, das
jahrzehntelang in Vergessenheit geraten war, bis es ein deutscher
Wissenschaftler, Prof. Christoph Schminck-Gustavus, nach systematischen und
langjährigen Recherchen im Detail dokumentiert und wieder ans Licht gebracht
hat, ist zugleich auch ein Symbol des Kampfes gegen die Verfälschung der
Geschichte und gegen das Einsargen der Erinnerung.
Die Bilanz des Angriffs der
Nazi-Wehrmacht gegen unser Land und seine unschuldigen Bürger ist tragisch
und ihre Folgen noch heute sichtbar: mehr als 100 Holocaust-Verbrechen mit
Zehntausenden getöteter Zivilisten haben die Besatzungstruppen begangen;
1770 Dörfer wurden niedergebrannt, mehr als 400.000 Häuser eingeäschert.
Unser Land erlitt eine nie gesehene Katastrophe von biblischen Ausmaßen von
einer Größe und einem Umfang wie es
kein anderes Land erlitten hat. Infolge der Bombardierungen, der
Massenhinrichtungen, der Hungersnöte, der Epidemien und des
Geburtenrückgangs verlor unser Land 13,5% seiner Bevölkerung. Demgegenüber
hat die UdSSR im Krieg 10%,
Polen 8 % und Jugoslawien 6% seiner Gesamtbevölkerung verloren.
Zugleich erlitt unser Land eine
unglaubliche wirtschaftliche Katastrophe: die Infrastruktur wurde verwüstet,
die Ressourcen geplündert. Kulturgüter und archäologische Schätze gestohlen
und nach Deutschland abtransportiert. Am Kulturerbe des Landes sind dadurch
nicht wiederherstellbare Schäden angerichtet worden.
Und dennoch: Auch 70 Jahre nach
dem Ende der Besatzung und 24 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands
hat unser Land noch keine Wiedergutmachung, keine Entschädigung von der
Bundesrepublik erhalten. Und dies, obwohl alle anderen, damals von der
Wehrmacht besetzten Länder solche Wiedergutmachungsleistungen
erhalten haben – alle, nur nicht Griechenland. Warum?
Des weiteren: auch der damals
erhobene Zwangskredit für die Besatzungskosten ist unserem Land nicht
- wie versprochen - zurückerstattet worden, während die entsprechenden
Zwangskredite an andere Länder wie Polen und Jugoslawien zurückgezahlt
wurden. Warum?
Und schließlich: Die aus
Griechenland geraubten Altertümer und archäologischen Kunstwerke von
unschätzbarem Wert sind auch nicht zurückgegeben worden. Warum?
Wie erklärt sich diese
unbegreifliche Haltung unserem Land gegenüber?
70 Jahre lang sind
diese drängenden Fragen ohne Antwort geblieben. Es hat bislang nur einige
halblaute Worte des Bedauerns gegeben.
Soll es dabei bleiben und wie lange
noch? Es ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, wo sich Deutschland endlich
zu seiner Verantwortung bekennen und ehrliche Reue für die Untaten und
Verbrechen des „Dritten Reichs“ gegenüber Griechenland bekennen
muss. Aufrichtig und durch Taten! Die ehrliche Bitte um Vergebung
muss begleitet werden von Taten der Gerechtigkeit und Wiedergutmachung!
Ernster Wille und Mut
sind hierzu erforderlich. Dann werden sich auch Wege finden lassen,
um die verdrängten Fragen deutscher Kriegsschulden gegenüber
Griechenland zu lösen. Lasst uns gemeinsam die Mauern der Gleichgültigkeit
und der Härte gegenüber dem griechischen Volk durchbrechen! Auf
demokratischem Wege, mit Zugeständnissen von beiden Seiten, ohne Feindschaft
und alte Schmerzen1! Wir haben hierbei als Grundsatz den Leitgedanken: «Δικαιοσύνη! Όχι εκδίκηση -
Gerechtigkeit,
keine
Rache!»
So empfangen wir im Epirus den ersten Bürger der
Bundesrepublik Deutschland, indem wir zugleich unseren Kampf für
Gerechtigkeit gegenüber dem griechischen Volk verstärken. Es ist dies ein
Kampf, der nicht nur Unterstützung vom gesamten griechischen Volk, sondern
auch von zahllosen demokratisch gesinnten Menschen in Deutschland erfährt;
auch sie fordern
«Gerechtigkeit und Wiedergutmachung!» für die
Opfer der Nazi-Barbarei in Griechenland.
Die von Griechenland
gebrachten Opfer haben in unschätzbarer Weise zur Befreiung vom Joch der
NS-Herrschaft für Europa und auch für Deutschland beigetragen. Das darf
niemals vergessen werden, auch heute nicht. Es ist von herausragender
Bedeutung für das Bewusstsein einer auf ethische Prinzipien gegründeten
Weltordnung. Es ist so auch notwendige Voraussetzung dafür, dass wir
endgültig das Schwarzbuch der NS-Herrschaft schließen können und dass unsere
beiden Länder und Völker ein neues Kapitel in ihrer Geschichte aufschlagen:
ein Kapitel des Friedens, der Freundschaft und Zusammenarbeit auf der Basis
der Gleichberechtigung, der Aufrichtigkeit und des gegenseitigen
Verständnisses. So werden wir gemeinsam unsere Zukunftsziele für die nach
uns kommenden Generationen erreichen.