Nie resignieren, und wenn welche resignieren, dann macht ihnen Mut! Ich war seit 1989/90 so etwas wie ein Reisender in Mutmachen. Seither resignieren viele, die für eine andere Welt eingetreten waren. Dann versuche ich ihnen gewissermaßen Mut zu geben, indem ich sage: Nehmt doch mein Leben von 90 Jahren, nehmt das von Ernst Melis, von den Menschen, die immer gekämpft haben, meinem Bruder und anderen, die dieses Alter erreicht haben. Was hat sich im Laufe unseres Lebens alles verändert?
Als ich auf die Welt kam, war ich Untertan von Kaiser Wilhelm und viele dachten, dieses Kaiserreich würde ewig bestehen. Als ich nach zwei Jahren zu laufen anfing, war das Kaiserreich verschwunden und die Weimarer Republik da; und die dauerte auch nur vierzehn Jahre. Dann kam das so genannte „Tausendjährige Reich" der Nazis. Es lebte keine tausend Jahre. Ein klein bisschen haben wir dazu beigetragen, dass es nur zwölf Jahre dauerte und zerschmettert wurde. Dann glaubten wir wirklich, ein Drittel der Erde gehe unabänderlich, unweigerlich dem Sozialismus entgegen. 1989 war es auch verschwunden.
Da begann ich meinen Freunden und Genossen zu sagen: Jetzt nicht wie Jammerlappen auf dieser Erde herumstehen, sondern nur noch darüber nachdenken und analysieren, wie so etwas geschehen konnte. Denn der erste Versuch eines Arbeiter- und Bauernstaates, die Pariser Commune, dauerte nur drei Monate, und Karl Marx jammerte nicht, sondern analysierte die Ursachen der Niederlage. Dann kam ein zweiter Versuch - auf deutschem Boden sogar -, der existierte immerhin 70 Jahre. Und der dritte Versuch - das könnt Ihr Euch vorstellen - der wird nicht so schnell verschwinden.
Deshalb sage ich immer wieder, besonders wenn ich vor jungen Menschen spreche: Es bleibt nie wie es ist; das war der berühmte Spruch von Bert Brecht. Ich habe die tiefste Nacht der Menschheit erlebt, als das Hakenkreuz über Europa schwebte und fast alle Staatsmänner der Welt glaubten, sich mit Hitler arrangieren zu müssen. Doch dann erlebte ich das Morgenrot der Menschheit, den 8. Mai 1945. Wir haben in unserem Leben diese Verzweiflung erlebt, aber trotzdem nicht resigniert, so sage ich dann, um meinen Optimismus, der kein Zweckoptimismus ist, zu vermitteln. Das ist meine, das ist die Lebenserfahrung unserer Generation, die damals gekämpft hat.
Peter Gingold starb am 29. Oktober 2006 in Frankfurt.