Entgegen einem weitverbreiteten Irrtum ist die Epoche des sogenannten neoliberalen Kapitalismus keineswegs durch ein ‚weniger an Staat‘ gekennzeichnet. Vielmehr geht der Abbau sozialer Rechte (wie z.B. ein relativ freies Studium) in Deutschland ganz offensichtlich mit einem Ausbau staatlicher Überwachungs- und Repressionsorgane einher. Es entsteht ein Polizeistaat auf Abruf, in dem gesellschaftliche und soziale Konflikte zunehmend nur noch als Sicherheitsprobleme wahrgenommen und kriminalisiert werden.
Videoüberwachung und ‚Bürgerpolizeien‘ sind Beispiele für eine ‚Sicherheitspolitik‘, der es nicht um die Austragung gesellschaftlicher Konflikte und die Frage nach deren Ursachen, sondern deren Befriedung bzw. Unterdrückung geht. Dabei lässt sich die rasante Eskalation dieser autoritären Politik jedoch nicht aus einer Bedrohung durch islamistischen Terrorismus erklären; schließlich erklärte beispielhaft sogar der Sicherheitschef der Bahn in Frankfurt am Main, dass der Ausbau der Viedeoüberwachung sich in erster Linie gar nicht gegen terroristische Attacken, sondern gegen unliebsame, unordentliche und konsumsschwache Minderheiten wie Junkies, Obdachlose und GraffitisprayerInnen richten solle.
Neben diesem offen repressiven Ausbau findet allerdings noch eine zusätzliche Erweiterung des Staates statt, die nicht weniger problematisch ist: Es ist ein fataler Fehler mancher ASten und der Gewerkschaften, beispielweise die Einführung von Studiengebühren als „ein weniger an Staat“ oder eine „Flucht des Staates aus seiner Verantwortung für die Bildung“ zu erklären. Vielmehr nimmt der Staat mit den Studiengebühren ja gerade seine Verantwortung für die Bildung seiner Staatsbürger im globalen Kapitalismus ernst. Wie er durch Hartz IV mit offenem Zwang und der Bespitzelung von Arbeitslosen versucht, selbst diese für das Vaterland im Wettwerb in Wert zu setzen, soll mit Studiengebühren das Studium mehr als bisher schon in den Dienst des Standortes Deutschland gestellt werden. Wer ‚unproduktiv‘ oder gar kritisch studiert und nebenbei noch mehr vom Leben haben will, der geht in diesem Sinne schlampig mit der Förderung ‚seines‘ Staates um. Dagegen setzt dieser angesichts einer sich verschärfenden globalen Konkurrenz nun eben mehr auf den Aspekt ‚Fördern und Fordern.‘
Es war schon immer eine selten ausgefallene Dummheit bürgerlicher, aber auch manch linker Bewegungen, den Staat für eine an sich vernünftige Einrichtung zu halten, die nur besser gemacht werden müsste. Vielmehr ist es gerade Staat, der die kapitalistischen Geschäftsbedingungen mit seinem Gewaltmonopol als „ideeller Gesamtkapitalist“ aufrechterhält. Er fasst die verschiedenen, gegensätzlichen Interessen der kapitalistischen Gesellschaft zu einem allgemeinen Interesse zusammen und sichert so das Fortbestehen einer apersonalen, aber keineswegs gewaltlosen Gesellschaft. Gegen diejenigen, die sich auch durch ideologischen Müll wie z.B. die ‚Du bist Deutschland‘-Kampagne nicht integrieren lassen können oder wollen gehen seine Justiz- und Polizeiorgane eben mit Gewalt vor. Auch die Staatsbürger eines noch so sozialen Sozialstaates sind dabei so sehr Subjekte des bürgerlichen Rechts, wie sie Objekte der Staatsgewalt bleiben. Ihre Geschichte können sie nicht selbst gestalten – es sei denn, sie würden die kapitalistischen Verhältnisse endlich überwinden. Aber das ist eine andere Geschichte.
Wer in diesem Zusammenhang jedenfalls, wie auf einer Studierendendemo in Marburg geschehen, ernsthaft ‚Sozialstaat für alle‘ fordert, der hat es im besten Fall gut gemeint, aber nichts verstanden. Auch im Sozialstaat sind die Menschen nicht Subjekte ihrer Geschichte, sondern werden als Rädchen in einem System, das sie nicht verstehen, abgespeist und kontrolliert. Auch der vorgelagerte Staat mit seinen Verbänden, Institutionen und Rechten ist dem Kapitalismus nicht entgegengesetzt: Er ist nur die andere Seite der Medaille. Und so ziehen dementsprechend alle „Rechte“ immer auch ihre Pflichten nach sich: ‚Es ist nicht mehr nur konservative Gesinnung, sondern bittere Notwendigkeit, dass es künftig heißen muss: ‚Bildung ist Bürgerpflicht.‘‘ (Jürgen Busche, im konservativen Magazin Cicero 8.06)
Überdies waren auch schon mit dem „guten alten Sozialstaat“ eine ganze Reihe von strukturell rassistischen Ausschluss- und Diszplinierungsmaßnahmen verbunden. Mit ein Grund, warum die Gegenwehr gegen die fortschreitende Entrechtung und den Ausbau eines Polizeistaates auf Abruf aktuell auf so wenig Widerspruch trifft. Ziel des (Sozial-)Staates war nie das Wohl der Menschen, sondern Ruhe an der Heimatfront im globalen Wettbewerb. „Sozialer Frieden“ war und ist das Stichwort, unter dem sich die Gewerkschaften immer wieder um die schlechte nationale Sache verdient gemacht haben. Soziale Konflikte werden entschärft und grundsätzliche, radikale Kritik isoliert. Damit einher geht eine denkfaule Staatsgläubigkeit, die sich nicht an Wahrheit, sondern am Gesetzbuch orientiert. So wichtig es ohne Zweifel ist, die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zu verändern, so klar zeigt sich: Fortschritt ist nur gegen den Staat zu erkämpfen. Und bis zur grundsätzlichen Überwindung des Kapitalismus gilt leider: Wer, wie Gewerkschaften oder andere Staatsfans, nicht mit den zentralen Funktionsprinzipien des Kapitalismus – Recht, Staat und Nation – bricht, der ist gezwungen, diese zu reproduzieren.
Dass Studiengebühren dem Standort schaden ist ein viel gehörtes Argument bei protestierenden Studierenden. Doch so attraktiv eine Argumentation auch sein mag, die scheinbar auf dem Terrain und mit den Begriffen des Gegners punktet, so falsch ist sie auch. Denn mit ihr einher gehen Implikationen des Begriffs, die nicht emanzipatorisch nutzbar zu machen sind. Vielmehr übernimmt der affirmative Bezug auf den Standort Deutschland eine Logik, die zwangsläufig in die momentane reaktionäre Entwicklung in allen gesellschaftlichen Bereichen mündet. Führt dieser Prozess doch trotz des ganzen Geredes von Freiheit, Fortschritt und Flexibilisierung, das mit der Etablierung des nationalen Standorts einhergehe keineswegs zu mehr Freiheit und Fortschritt für die einzelnen Menschen. Vielmehr bedeutet das Fitmachen des nationalen Standorts für die globale Konkurrenz eine reaktionäre Entwicklung, welche die bisher gegen die Herrschaft erkämpften Standards sang- und klanglos einkassiert.
Entsprechend ist das Vaterland, das heute Standort genannt wird nach wie vor mit den reaktionären Implikationen vaterländischer Ideologie gespickt. Auch wenn es (auf den ersten Blick!) bei der WM anders ausgesehen haben mag – auch der moderne Standort basiert auf Ausgrenzung. Ausgrenzung einerseits nach wie vor anhand von Nationalität und Hautfarbe, stärker jedoch inzwischen anhand von Leistung, die zunehmend repressiver ‚gefördert und gefordert‘ wird.
So geht mit dem Zwang zu permanenter Weiterbildung und Qualifikation die ständige Drohung von Hartz IV und einem Platz auf dem Müllhaufen der Gesellschaft einher. In diesem Sinne sind auch Studiengebühren zu begreifen. Nicht per se als Ausschluss der finanziell schlechter Gestellten, sondern als Erhöhung des Leistungsdrucks für alle – dem die Ärmeren dann natürlich doppelt ausgesetzt sind. Studiengebühren bedeuten die Übertragung der (Standort-) Logik von Hartz IV auf eine weitere gesellschaftliche Gruppe und muss in diesem Zusammenhang bekämpft und verhindert werden.
Seit Beginn der Studierendenproteste kam es immer zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Für viele Protestierende war das eine neue Situation, verwunderlich allerdings nicht. Dennoch begreifen viele Studierende noch nicht, dass diese Auseinandersetzungen keine Ausnahmen von der Regel darstellen.
So ist immer wieder in öffentlichen Stellungnahmen der Studierendenvertretung die Rede von ‚unverhältnismäßigen Polizeieinsätzen‘, wobei jedoch offen bleibt, was denn ‚verhältnismäßige‘ Polizeieinsätze wären. Viele können oder wollen nicht die staatlichen Ordnungshüter als das sehen, was sie eben sind – als das personifizierte Gewaltmonopol des Staates. Sie sind nicht ‚Freund und Helfer‘, sondern diejenigen deren Aufgabe es ist, die Geschäftsbedingungen im Standort Deutschland aufrecht zu erhalten. Dazu passt auch, dass in Zeiten, in denen es der Logik des Standorts folgend weniger zu verteilen gibt, gesellschaftliche Konflikte vor allem als polizeiliche Probleme behandelt werden – also Kontrolle und Zwang in hohen Maße zunehmen (z.B. Hartz IV). In diesem Sinne sind Polizeieinsätze gegen protestierende StudentInnen, Abschiebungen von MigrantInnen, aber auch das Suchen von Kofferbomben und die Fahrradführerscheinprüfung für Kinder verschiedene Seiten derselben Medaille des staatlichen Gewaltmonopols.
Wer den grundsätzlich gewalttätigen Charakter des Kapitalismus mit seinem Zwang zur Konkurrenz, die alle Menschen als potentielle Feinde einsetzt und einer vernünftigen und menschlichen Gesellschaft – wie sie schon lange möglich wäre – entgegen steht, nicht sehen möchte misst mit zweierlei Maß. Wer sich als per se ‚friedlicheR DemonstrantIn‘ auf der moralisch richtigen Seite wähnt stellt sich gar nicht erst dem Problem der Gewalt in dieser Gesellschaft; Er/Sie überläßt die Definition von „Gewalt“ und „Gewaltfreiheit“ Staat und Polizei und hängt sich an den Rockzipfel des staatlichen Gewaltmonopols. Man macht es sich sehr leicht, wenn man einen ‚Frieden‘ akzeptiert, der mit Zwang und Ausgrenzung erkauft wird. Wirkliche Veränderungen werden auf diese Weise jedenfalls nicht zu machen sein. Stattdessen ist es vielmehr nötig, Verantwortung zu übernehmen und in diesem Sinne sowohl die gesetzlichen Schranken als auch die im eigenen Kopf zu überwinden. Ansonsten spielt man nur StatistIn in einem Spiel, das sich „freiheitlich demokratische Grundordnung“ nennt, mit persönlicher Freiheit jedoch nichts zu tun hat.
Siehe auch den Aufruf der Anti-Nazi-Koordination auf
der Nachttanzdemo
Redebeitrag der autonomen antifa[f]