Liebe Kolleginnen und Kollegen der Deutsche Bahn AG,
liebe Anwohnerinnen und Anwohner hier im Gallusviertel,
wir stehen heute morgen hier, um Sie alle darüber zu informieren:
die Deutsche Bahn AG weigert sich nach wie vor, es zu erlauben, daß auf deutschen Bahnhöfen eine Ausstellung gezeigt wird, die auf das Schicksal von rund 11000 jüdischen Kindern hinweisen soll – während der deutschen Besetzung Frankreichs von dort zusammengetrieben, über das Schienennetz der Reichsbahn, heute Deutsche Bahn AG, verschleppt und in die Todeslager abtransportiert. Das alles zum Preis von 4 Pfennig pro Verschleppungskilometer, die den Angehörigen der Opfer auch noch in Rechnung gestellt wurden.
Heute, am 9. November, gedenken Millionen Menschen in aller Welt der Novemberpogrome des Jahres 1938, der sogenannten Kristallnacht.
Damals brannten in Deutschland Hunderte Synagogen, Tausende von Geschäften und Wohnungen wurden geplündert, mehrere Hundert Menschen ermordet, mehr als 20.000 auf Befehl des Gestapo-Chefs Heydrich verhaftet, zusammengetrieben und in die KZs verbracht - auch sie mithilfe der Reichsbahn. Es gibt zum Beispiel einen Zeitzeugenbericht aus jenen Tagen, von einem unbekannten Frankfurter verfaßt. Er berichtet über seine Verschleppung nach Buchenwald in der Nacht vom 11. zum 12. November 1938. Sein Transport begann an der Frankfurter Festhalle, von dort ging es zum Südbahnhof und von dort mit der Reichsbahn nach Weimar.
Die Täter von damals sind zum großen Teil bekannt. Aber nur die wenigsten wurden auch belangt. Im Fall der Deutschen Reichsbahn, einem unabdingbar notwendigen Rädchen im Getriebe des antisemitischen Terrors im deutschen Nazireich ist es sogar so, daß kein einziger der Verantwortlichen für die Logistik des Holocaust verurteilt wurde. Etliche von ihnen machten nach dem Krieg ungehindert Karriere in der Deutschen Bundesbahn, die heute Deutsche Bahn AG heißt – bis hinauf in den Vorstand des Nachkriegsunternehmens.
Der heutige Chef der Deutschen Bahn AG, Hartmut Mehdorn, verweigert seit nunmehr zwei Jahren die Erlaubnis, eine bereits existierende Ausstellung „Mit der Reichsbahn in den Tod – 11000 jüdische Kinder“ auf deutschen Bahnhöfen zeigen zu lassen. Diese Ausstellung wurde von den Nachkommen der jüdischen Deportierten Frankreichs erarbeitet und in Frankreich auf 18 großen Bahnhöfen gezeigt.
Die dortige Staatsbahn SNCF hat sich schon vor Jahren zu ihrer Mitverantwortung für die Ermordung vieler Zehntausender französischer Jüdinnen und Juden bekannt und dies auch öffentlich gemacht – obwohl das dortige Unternehmen viel leichter als die Reichsbahn hätte geltend machen können, unter dem Befehl der deutschen Besatzer gestanden zu haben.
Hier in Deutschland soll das nicht möglich sein. Herr Mehdorn will die Ausstellung „Mit der Reichsbahn in den Tod“ dem deutschen Publikum, er will sie auch Ihnen allen vorenthalten.
Warum? Weil die Ausstellung falsche Tatsachen behauptet? Weil sie unsachlich ist?
Nein, das hat noch nicht einmal Herr Mehdorn zu behaupten gewagt. Er hat die unterschiedlichsten Begründungen genannt. Die Ausstellung sei zu teuer hieß es zunächst aus dem Mund des Vorstandschefs eines milliardenschweren Unternehmens, das aktuell gerade an die Börse gehen möchte. Es gebe, so hieß es danach und gegen die Wahrheit, auf deutschen Bahnhöfen überhaupt nie Ausstellungen. Es sei unwürdig, so hieß es dann drittens, verschleppter Opfer des Holocaust auf Bahnhöfen zu gedenken. So etwas gehöre sich einfach nicht.
Die jüngste Ausrede lautet nun: die Ausstellung der französischen
Nachkommen deportierter Jüdinnen und Juden sei überflüssig.
Es gebe im Verkehrsmuseum Nürnberg bereits eine bessere – wußten
Sie das schon?
Man könne, fährt Mehdorn fort, diese Ausstellung in der Nähe
deutscher Bahnhöfe zeigen und in den Bahnhöfen Hinweisschilder zu
ihr anbringen: von hier aus geht es in zweihundertfünfzig oder fünfhundert
Metern zu einer Ausstellung über die Holocaust-Verwicklung der Reichsbahn.
Auch das ist natürlich ein Weg, eine Ausstellung vor den meisten Menschen
zu verstecken, indem man sie auf diese Weise „zeigt“.
Im Kern alles dessen sagte Herr Mehdorn gestern in einem Interview der FAZ: „Die Deutsche Bahn behält sich das Recht vor, selbst zu entscheiden, wie wir mit der Vergangenheit verantwortlich umgehen“. (FAZ, 8. November 2006).
Mit anderen Worten: Die Nachkommen der Täter wollen den Nachkommen der Opfer vorschreiben, ob und wie diese ihrer ermordeten Toten öffentlich gedenken dürfen! Das ist eine ungeheuerliche Anmaßung und Dreistigkeit, die wir uns nicht bieten lassen wollen.
In der deutschen Öffentlichkeit hat diese Haltung des Bahnchefs Mehdorn bis hinauf in die höchste Regierungsebene zuletzt Kopfschütteln und Unverständnis ausgelöst. Mit Verkehrsminister Tiefensee hatte Mehdorn einen regelrechten Eklat. In der internationalen Öffentlichkeit werden seine wechselnden Begründungen dafür, auf diese Weise die Opfer der Holocaust-Logistik ein zweites Mal verschwinden zu lassen, immer deutlicher und empörter kommentiert. Und einen rationalen und irgendwie nachvollziehbaren Grund für seinen mit wechselnden „Gründen“ garnierten Gedenkboykott hat Herr Mehdorn niemandem angeben können.
Herr Mehdorn - wir fordern Sie hier und heute auf:
Lassen Sie dieses unwürdige und arrogante Spiel sein! Beenden Sie umgehend den Gedenkboykott gegen die Ausstellung „Mit der Reichsbahn in den Tod“! Stellen Sie sich nicht durch Ihre eigene Haltung in eine Kontinuität mit den Verantwortlichen der Holocaust-Logistik in der Deutschen Reichsbahn!
Der Opfer des Holocaust und der Verwicklung der Deutschen Reichsbahn in ihr Martyrium muß dort gedacht werden dürfen, wo die Menschen heute, in ihrem Alltag sind – mitten auf den Bahnhöfen. Sie darf nicht abgeschoben und in Museen gesperrt werden, sondern muß im Alltag des Lebens sichtbar gemacht werden, damit die ganze Ungeheuerlichkeit ihrer generalstabsmäßig organisierten und industriell abgewickelten Auslöschung niemals vergessen wird.
11000 jüdische Kinder aus Frankreich – darunter 600 Kinder deutscher EmigrantInnen – rollten 1942 bis 1944 in Viehwaggons über das Gleisnetz der Reichsbahn in den Tod – auch hier mitten durch Frankfurt. Niemand wagte es, sie wahrzunehmen, ihnen zu helfen. In wenigen Fällen sind Zettel, die sie aus den fahrenden Zügen warfen und auf denen sie um Hilfe baten oder sich vom Leben verabschiedeten, erhalten geblieben. Wir kennen ihre Namen, ihre Wohnorte, von denen sie deportiert wurden, den Tag ihres Abtransports, die Zug- und Wagennummer, den Zeitpunkt ihrer Ankunft am Ort ihrer Vernichtung. Von vielen gibt es Fotos – und so haben wir wenigstens eine Ahnung von ihren Gesichtern.
Herr Mehdorn – wir finden es unglaublich, daß Sie es nun seit
zwei Jahren verbieten, diese Gesichter heute auf den Bahnhöfen unseres
Landes zu zeigen!
Wir finden es unfaßbar, daß Sie Ihren Fahrgästen diese Gesichter
und die wenigen Informationen über die Menschen, deren Bilder sie zeigen,
glauben vorenthalten zu dürfen!
Wir sind empört über die Beleidigung, die Sie damit seit den Opfern
und ihren Nachkommen glauben antun zu dürfen!
Wir versprechen Ihnen, Herr Mehdorn, hier und heute, an diesem 9. November: wir werden solange keine Ruhe geben, bis der Skandal Ihres Verhaltens Sie dazu zwingen wird, umzukehren!
Und wir fordern den Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee auf: stellen Sie klar, wo die politische Verantwortung in dieser Frage liegt und setzen Sie notfalls gegen Herrn Mehdorn die Präsenz der Ausstellung auf deutschen Bahnhöfen durch!
Die Erinnerung an das Leiden der 11000 jüdischen deportierten Kinder, aller Deportierten und Ermordeten des Holocaust steht nicht im Belieben eines Konzernchefs oder einer Regierung. Sie würdig zu gestalten, in den Alltag unseres Lebens mitten hinein zu nehmen – das ist unser aller Verantwortung. Diese Verantwortung müssen wir wahrnehmen und den Druck auf Bahnvorstand und Regierung so lange erhöhen, bis sie ihren Widerstand aufgeben.
Darum informieren wir heute Sie und Euch, liebe Kolleginnen und Kollegen der Deutschen Bahn AG. Schließt Euch unserem Protest gegen den Vorstand der Deutschen Bahn an. Sagt Herrn Mehdorn Eure Meinung zu dieser Frage!
Die von der französischen Organisation „Söhne und Töchter der deportierten Juden Frankreichs“ erarbeitete Ausstellung „Mit der Reichsbahn in den Tod – 11000 jüdische Kinder“ muß auf deutschen Bahnhöfen gezeigt werden. Dafür stehen wir hier und bitten Euch um Eure solidarische Hilfe!
Vielen Dank.
Siehe auch: